02.05.2022
Dem Volk aufs Maul geschaut
Eröffnung der Kanzelreden 2022
Am 1. Mai 2022 eröffnete Dr. Wolfgang Schäuble die aktuelle Reihe der Kanzelreden in der Stadtkirche St. Marien zu Wittenberg. „Dem Volk aufs Maul schauen“ war Teil des „Übersetzungsprogramms“ Martin Luthers. Damit konnte Luther schwer zu verstehende Konstruktionen der alten Bibelsprachen in einer Weise übersetzen, dass die biblische Wahrheit von jedermann leicht(er) zu verstehen war. Zum Thema führten zunächst Lesungen von Goethe (Am Anfang war das Wort), Mark Twain (Die Schrecken der deutschen Sprache) und Hilde Domin (Unaufhaltsam), die sich allesamt der Macht der Sprache widmeten.
Aus seiner langjährigen Erfahrung heraus (Mitglied im deutschen Bundestag seit 1972) beleuchtete Dr. Schäuble die Aufgabe, mit der Macht des Wortes und im andauernden Gespräch Führungsverantwortung zu übernehmen. Kritisch sah er die Entwicklungen in den sozialen Medien. Dort entstünden oft Parallelwelten, die zu Desintegration führten, weil komplexe Themen nicht mehr ausdiskutiert werden. Gerade das sei aber ein Kennzeichen der Demokratie. Zusammenhänge und Zusammenhalt würden geringer, die Individualisierung wachse und ließe traditionelle Bindungen zurückweichen. Nötig seien daher Medien, die für die Vielfalt eintreten und die unabhängig berichten. Nichts fürchteten Diktaturen so sehr wie den freien Zugang zu Informationen und das offene Gespräch darüber. Da in der parlamentarischen Demokratie durch die Repräsentation die soziale Komplexität reduziert würde, läge hier eine besondere Führungsaufgabe. „Dem Volk aufs Maul schauen, aber nicht nach dem Mund reden“ bleibe so eine fortwährende Herausforderung und Verantwortung.
Zu dieser Aufgabe gehört auch eine gewisse Demut und Hoffnung. So zitierte Schäuble am Ende seines Vortrags die Herrnhuter Losung für den Sonntag: „Unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören (Die Bibel, 1. Korinther 13,9-10). Damit „sind wir dann wieder im Irdischen und in der Hoffnung auf Erlösung“, schloss Schäuble seine Kanzelrede.
Die Kanzelreden werden fortgesetzt am 19. Juni (Dr. Uwe Steinmetz, u. a. Jazzkomponist und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Liturgiewissenschaftlichen Institut der VELKD), 28. August (Dr. Ernst Paul Dörfler, Umweltschützer, Mitbegründer der Grünen Partei in der DDR) und 16. Oktober (Prof. Dr. Armin Nassehi, Soziologe an der Ludwig-Maximilian-Universität München). Weitere Informationen auf der Seite der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt e. V.